Solo nach Helgoland

Es ist 03:30 Uhr Karfreitag morgens, als es mich wie in Trance durch den Hamburger Elbtunnel fahren ließ. Der Diesel schnurrte und die Müdigkeit wich einer tranceähnlichen Euphorie auf das, was kommen sollte.

Es sind diese Momente, in denen sich die Barriere zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein fließende Übergänge schafft. Kleine aufsteigende Bubbles mit längst schon archiviert geglaubten Gedankenfetzen finden Ihren Weg an die Oberfläche.

Wie bei der Caisson-Krankheit üblich, schaffen sie sich in der Wahrnehmung Raum, dehnen sich aus, gewinnen an Größe und machen sich Platz.

Alles wird nichts, Helgoland als gedanklicher Schriftzug immer größer. Wie konnte es denn sein, dass dieses Ziel schon so lange in Vergessenheit geraten war. Bedenken, Vorbehalte und die alltäglichen Routinen taten ihr übliches, Kreativität und Tatendrang zu bremsen.

Dieser Gedanke aber war so präsent und physisch spürbar, dass ich am Ende des Elbtunnels mein neues Ziel mit jeder Faser meines Körpers übernommen hatte.

Um 04:30 Uhr spürten die Reifen meines VW T5 einen sandigen Untergrund unter ihrem Profil. Vor lauter Flow konnte ich nur schwerlich bremsen und näherte mich direkt dem Strand von St. Peter-Ording mit seinen Pfahlhäusern.

Langsam setzte sich im Licht des Mondscheins der Gedanke durch, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, und man im restriktiven „Hierzulande“ niemals bis an den Spülsaum fahren darf. Ein letztes Mal an diesem Morgen sollte die Ratio noch einmal die Kontrolle erobern und so wendete ich wieder Richtung Legalität, nur um augenblicklich in ein kurzes komatöses Powernapping zu fallen.

Akustische Signale

 

Ein akustisches Signal mit zunehmender Stärke waberte durch den Nebel des Schlafes und nahm die Form eines energischen, aber durchaus freundlichen Surfschulbesitzers an, der mir durch Klopfen mit Nachdruck erklärte, dass ich vor seiner Einfahrt stehen würde. Ein kurzer Blick, nun im Lichte der aufgehenden Sonne, bestärkte mich in der Annahme, dass er recht hatte und es nun meinerseits Zeit zum Handeln wäre. Nach dem Umparken konnte ich den noch emotional indifferenten Kontakt strategisch mit einer Gegenfrage festigen. Die Lösung meines Parkproblems wurde mit dem Hinweis auf einen nahe gelegenen Tagesparkplatz und in Akzeptanz eines Strafzettels gelöst. Sofort nach dem Motorenstopp tunnelte sich mein Bewusstsein wieder ganz eng ein und ließ nur den Focus offen für das was kommen sollte. Schon seit langem dem Motto treu, weniger ist mehr, das 1x1 des Minimalisten, gepaart mit einem tief verwurzelten Erfahrungsschatz, kam mir die reduzierte Vorbereitungszeit entgegen.

Keine Karte

Keine Karte, keine aktuellen Infos über Zielort oder Hafen, geschweige denn eine gedankliche vorherige Beschäftigung mit der Tide oder dem Wetter. Wenn man aber den Transfer schafft, diese suboptimalen Bedingungen im Geiste als besondere Herausforderung zu deklarieren, die dazu dient, nach kreativen Lösungen zu suchen oder aber einfach zu schauen, welche konkreten mentalen Reserven einem zur Verfügung stehen, kann man auch dieser Situation durchaus seine Reize abgewinnen. Hier wurden meine Erinnerungen wieder etwas nebulös. Vielleicht hing es ja mit dem Schlafdefizit zusammen. Trotz sich einer langsam kultivierenden altersgerechten präsenilen Bettflucht reichten 1,5 Stunden Schlaf nach einer eng getakteten Arbeitswoche zum konzentrieren Packen nur schwerlich aus. Trotzdem gelang es mir, in einem gefühlt akzeptablen Zeitfenster „Sack und Pack“ boots- und eignergerecht zu verstauen. Zu meiner eher kompakten Vorbereitung gehörte mein komplettes Winter Equipment, trotz der angekündigter frühlingshaften Temperaturen, sowie meine drei redundanten Notfallsysteme PLB, UKW-Seefunk und mein wasserdichtes Outdoor-Smartphone mit aktiver SafeTrx Tracking App.

Solange, bis du ankommst

Trotz aller Bemühungen wollte es mir nicht gelingen, die notwendige Konzentration oder vielleicht auch den Willen aufzubringen, mir mein geplantes Zeitfenster für die Überfahrt auszurechnen. Immer wieder gewann ein tief verwurzelter Gedanke die Oberhand und soufflierte mir: Werde nicht konkret, berechne nicht, bleib im Schutze des geistigen Nebels; es dauert solange, bis du ankommst. Wie von selbst gewann dieser Leitgedanke immer mehr Präsenz und erinnerte mich an die vielen Stunden meines autogenen Trainings. Die dritte Planungsphase, summte es in meinem Ohr. Korreliere Gefühl und Verstand. Nur wenn dein Bauch es will. Längst verifizierte Gewissheit, das Bewusstsein entscheidet nichts, die Amygdala steuert unsere Angst, im limbischen System korrelieren Erfahrungen und Emotionen und bilden intrinsische Motivation. Also nur Mut, vertraue deiner Erfahrung, deinem Gefühl; lass dich auf der Welle der Gewissheit tragen. Gesagt, getan: Die navigatorischen Rahmenbedingungen waren wirklich einfach. In Ermangelung von Kartenmaterial und der verpassten Chance, die digitale Karte auf meinem Smartphone offline zu speichern, blieb mir nur der geschätzte Kompasskurs von ca. 240 Grad. Als ich das Boot mit eisernem Willen durch den weichen Sand zog, den Bootswagen hatte ich schon vor 100 Metern abgeschrieben, brummte es an meinem Handgelenk. Ich erinnerte mich an meine neue Smartwatch mit Pulsfunktion. Diese teilte mir nun mit, dass ich meinen Maximalpuls zum wiederholten Male überschritten hätte. Verwirrt schaute ich auf die wenigen hinter mir liegenden Meter und verglich diese mit denen, die noch folgen werden. Frustriert wanderte die Uhr in den Packsack und verschwand anschließend für immer aus meinem Leben. Es war nun 1100 vormittags. Die Strandpromenade erwachte langsam zum Leben. Ich verschnaufte für einen kurzen Moment angelehnt an mein Kajak und döste durch den Schlafdruck dabei sofort für einen kurzen Moment ein.

Es ist soweit

Dann ist es soweit, die Routinen der checklistenartigen Kontrolle meines Settings sind abgeschlossen. Bei perfekten Bedingungen, Ostwind 3-4 Bft stach ich ca. 2,5 Stunden vor Hochwasser in See. Wie von selbst fiel ich mit meinem Lettmann Black Light Grönlandpaddel in meinen gewohnten Paddelrhythmus. Der Biskaya LV kommt im unteren mittleren Geschwindigkeitsbereich gut voran. Die Kunst ist es, nichts konkretes zu denken und dabei trotzdem achtsam zu sein. Ich zähle nicht, ich kontrolliere nicht, ich schaue nicht und bin trotzdem ganz bei mir im Hier und Jetzt Die Uhr an meiner Schwimmweste hatte ich nach innen gedreht. Das Smartphone war im Flugmodus verstaut. Nur der mit mir schweigende Kompass suggerierte seine kumpelhafte Unterstützung. Was zählt ist der Flow. Finde deinen Rhythmus, der zu dir und deiner Tagesform passt. So breche ich zwar keine Rekorde, habe aber die unbedingte Gewissheit, dass ich in diesem tranceähnlichen Zustand für viele Tiden paddeln kann. Mental hatte ich mich auf max. 18 Stunden eingestellt, um im Notfall eine Tide auszupendeln. Wer sich die Strecke von St. Peter-Ording nach Helgoland genauer ansieht, sieht im Detail nichts. Seezeichen sind auf dieser Strecke nicht existent. Ein für viele vielleicht persönlich bewerteter Nachteil, wird so für mein Vorhaben, mich meiner kognitiven Kontrolle zu entziehen, zum Vorteil. Ich hatte ca. 1,8 l Trinkwasser in meiner Trinkblase, die ich in meiner Schwimmweste verstaut hatte. Mein seit langer Zeit praktiziertes Intervallfasten befreite mich anfänglich von jeglichem Hungergefühl. Die erste Mahlzeit des Tages, bestehend aus einer Nussmischung mit Schokolade und Gummibärchen, hatte ich grob bei Sichtkontakt mit Helgoland geplant. Nach einem nicht zu definierendem Zeitraum sah ich im Dunst des vor mir liegenden Horizontes eine sich länglich abzeichnende Linie. Es waren die Umrisse von Helgoland. Jetzt war auch für mich der Zeitpunkt gekommen, meinen Standort zu ermitteln. Ich kontrollierte meine Fahrzeit und suchte meinen Standort per Smartphone GPS.

Sichtkontakt

Der Sichtkontakt mit der Insel wurde mit der einzigen, zehnminütigen Pause während der Überfahrt gebührend gewürdigt. Ich widerstand nur schwer der Versuchung, mir die Gummibärchen aus der Nussmischung heraus zu picken. Ab diesem Moment war es mit der Bewusstwerdungsvermeidung vorbei. Das Ziel war visualisiert. Plötzlich bekam alles eine Wert, eine Zahl und somit eine Bedeutung. Es fiel mir schwer zu begreifen, warum der Flow sich in diesem Moment verflüchtigte. Die Arbeit begann hier. Der Weg definiert, Strecke und Zeit und somit das, was noch vor mir lag wurde messbar. Wenn der Flow geht, wird es zäh. Im Süden lag ein Schiff auf Position und gab mir dadurch ein bisschen Orientierung für meine Fahrt über Grund. Ich näherte mich gefühlt im Schneckentempo Helgoland. Der Hafen sollte irgendwo im Süden der Insel liegen. Die Helgoland-Düne war nun zum Greifen nah. Die Wellenhöhe lag hier nun bei ca. 1,5 Meter. Die Wellen rollten aus achtern und ließen mich surfen. Auf einer Welle ins Tal gleitend ereilte mich die Erkenntnis des Erfolgs. Nur noch wenige Meter trennten mich von meinem Ziel, Helgoland alleine und auf eigenem Kiel erreicht zu haben. Sofort verwandelte sich meine stoische Kontrolliertheit in ein kleines Jauchzen, hinterlegt von einem breiten Grinsen. Die letzten Meter der Orientierungslosigkeit im gefühlten Hafenlabyrinth mit einer Vor- und Haupthafenmauer lagen jetzt hinter mir.

Im Hafen

Im Hafen selber empfingen mich Segelboote in unterschiedlichster Größe, alle jedoch auffallend hochseetauglich. Der schulterhohe Steg war schnell erklommen und das Boot im Nu berädert. Nun galt es die Hafenmeisterin aufzusuchen, um das Unmögliche möglich zu machen und vor Ort im Hafenbereich über Nacht zelten zu dürfen, da der Zeltplatz auf der Helgoland-Düne zu dieser Jahreszeit noch geschlossen war. Das Hafengebäude des Wasser- und Schifffahrtsamtes Tönning Außenbezirk Helgoland erkannte ich nun auf der anderen, südwestlichen Seite des Hafens. Somit konnte ich mich auf dem Weg dorthin schon einmal mit der gesamten Umgebung vertraut machen. Um es abzukürzen nur soviel: Die verbale Interaktion mit der von mir sehr geschätzten Hafenmeisterin in Bezug auf mein Überachtungsanliegen in ihrem Claim nahm nach einer schildbürgerartigen Kontroverse zu guter Letzt doch noch ein gutes Ende. Ich konnte mein Zelt vor Ort aufschlagen und damit meine Übernachtung sichern. Grüner, planer, frisch geschorener Rasen erwartete mich neben einer hohen Wand aus Eichenbohlen, die mir den notwendigen Sicht- und Windschutz gab. Davor eine Parkbank mit Blick über den Hafen. Ich würde sagen, die VIP Launch eines jeden Paddlers. Die Routinen des Lagerbaus gingen schnell von der Hand, gekrönt im Anschluss mit einer Tasse heißen Kaffees. Das Klappern der Takelagen und das sonore Stimmengewirr der noch ankommenden Segler bildeten eine angenehme akustische Melodie und entspannten mich sofort. Erst eine vor mir flanierende Seglerin mit turmhoch geschichteten Pizzakartons weckte meinen Appetit und mein Interesse.

Kulinarischer Beifang

So ganz verständlich gelang es mir nicht, meinen Wunsch nach Auskunft unfallfrei und empfängertauglich auf Anhieb zu formulieren. Zumindest interpretierte ich die nonverbale Reaktion zweier weit aufgerissener Augen dementsprechend. Erst im zweiten Anlauf erkannte die Seglerin, dass keine Gefahr für ihren Pizzakartonturm bestand, und teilte mir nun sehr knapp und in Eile die Quelle ihres kulinarischen Beifangs mit. Olfaktorisch getriggerte Wellen des Hungers aus der Mitte meines Leibes, ich konnte die sich nach Kalorien zehrenden Darmzotten förmlich vor mir sehen, machte ich mich nun auch auf die Jagd. Also schlenderten ich und mein nun doch deutlich knurrender Magen über das Trottoir vorbei an den kleinen Fischerbüdchen, die zur österlichen Vorsaison noch zum größten Teil geschlossen waren, ließ den Binnenhafen rechts liegen, näherte mich dem touristischen Zentrum und ergatterte im Stehen eine wunderbar schmeckende Pizza. Der folgende Tag stand ganz unter dem Eindruck der Regeneration. Schon früh am Morgen, bevor die Fähren vom Festland ihre touristische Ladung über die Insel verstreuten, erklomm ich den steilen Pfad entlang der Klippe und erwanderte anschließend das noch einsame Helgoländer Oberland. Dabei inhalierte ich die frische Seeluft und begab mich auf die Spuren der Vergangenheit.

Heisenberg und Trottellummen

Vorbei am Gedenkstein Werner Heisenbergs, der just hier auf der Insel in einer langen Nacht die neue Physik-Ära der Quantenmechanik einläutete, weiter den Pfad entlang zu den Trottellummen, die nur wenige Meter vom Weg entfernt ihr infernalisches Intermezzo zelebrierten. Weiter trieb mich der Weg in Richtung der 47 Meter hohen Felsnadel im äußersten Nordwesten der Insel, genannt "Lange Anna". Von hier ging es wieder zurück vorbei an den zahllosen Bombentrichtern und deren Kratern, die noch heute an die Operation Big Bang der Briten vom 18. April 1947 erinnern. Nur dem porösen Sandstein war es zu verdanken, dass die enorme Druckwelle mit der Sprengkraft einer halben Hiroshimabombe die Insel nicht völlig zerstörte. Zurück am Zelt labte ich mich an meinem Müsli, döste, las und begab mich dann zum Abend noch einer nachgereichten Einladung der Pizza-Seglerin folgend an Deck eines veritablen Segelschiffs. Für den kommenden Tag, also Ostersonntag, war meine Rückfahrt geplant. Die Wetterprognose gab sich noch etwas indifferent in der Hinsicht, als dass es nicht ganz erkennbar war, ob die angekündigte Starkwindphase, weiterhin aus Ost, also Headwind, noch die Geduld besaß, mich vorher passieren zu lassen. Es galt, ca. zweieinhalb Stunden vor Niedrigwasser zu starten, um so mit etwas Tiden-Vorlaufzeit mental entspannter unterwegs zu sein. Am Sonntagmorgen, nach einer wunderbaren erholsamen Nacht, öffnete ich langsam die Augen. Es war noch dunkel, die Takelagen der Segler klapperten leise und rhythmisch im Wind und gaben mir somit schon akustisch das Signal, dass die Wetterlage wohl für heute zumindest am Morgen mitspielen sollte. Danach folgte die obligatorische Kontrolle über die Windfinder-App. Die Prognose war für den Tag bis zum späten Nachmittag mit einem Wind aus Ost mit 3 Bft in Böen 4 zwar nicht perfekt, aber machbar.

Hier und Jetzt

Der dann folgende Blick aus dem Zelt war einer jener Momente, an dem wir tief in unserem Bewusstsein die göttliche Kraft fühlen, die in diesem Augenblick der Perfektion uns ein einmaliges Gefühl im Hier und Jetzt gibt und uns somit für all unsere Strapazen entschädigt. Nach der Morgenroutine, die bei mir nur aus einem Schluck Kaffee und dem Verstauen der Ausrüstung bestand, rollerte ich nach 15 Minuten ca. 2,5 Stunden vor Niedrigwasser den Steg entlang. Es folgte dann am Wasser meine ganz persönliche innere Einkehr meiner dritten und letzten Planungsphase.

Erste Paddelschläge

Nach dem mir Bauch und Verstand für die Rückfahrt grünes Licht gegeben hatten, trieben mich die ersten Paddelschläge Richtung Hafenausfahrt. Ein kurzer Blick zurück, es sollte der letzte sein, nahm ich Kurs auf Ost Nord Ost. Die Sicht war noch klar, die Wellen steil und kurz von vorn, und es wirkte unnatürlich warm. Nachdem ich die Helgoland-Düne hinter mir gelassen hatte schlugen die Wellen bei östlichen Gegenwind wie kleine Hammerschläge an meinen Bug und bremsten meine Fahrt merklich aus. Von einem Dahingleiten oder gar einem Gefühl des gelegentlichen Surfens konnte keine Rede sein. Im Gegensatz zur Überfahrt hatte ich mir bei der Rückfahrt ein Seezeichen markiert, welches mir nach einigen Kilometern Auskunft über meine Richtung und Geschwindigkeit geben sollte. Ich hätte es besser wissen sollen. Nach gefühlten Stunden gegen Wind und Welle, in Wirklichkeit waren es nur derselben zwei, legte ich die erste Orientierungspause ein und konnte das von mir anvisiertes Seezeichen, eine Kardinaltonne, noch nirgendwo erkennen. Erst nach einer weiteren halben Stunde erkannte ich am angrenzenden Horizont eine kleine Erhebung.

Trockenem Bonsai gleich

Trotz des durch Frustration bedingten forcierten Tempos wuchs das Tönnchen am Horizont, einem trockenem Bonsai gleich, nur unmerklich in seiner Größe. Endlich angekommen war die Tonne mitnichten, wie ich ihr im Geiste schon als Ausrede unterstellt hatte, von kleiner Statur, sondern normal gewachsen. Meine erste kurze und einzige Mahlzeit folgte dem Beispiel der Hinfahrt. Nüsse und Gummibärchen verschwanden in meinem gierigen Schlund. Nachdem ich meinen Blick aus der Fressalientüte wieder lösen konnte, staunte ich nicht schlecht, als ich mich durch Winddrift in einem nicht unerheblichen Tempo von der Tonne wieder zurück Richtung Westen entfernte. Ich gebe zu, dass ich in diesem Moment meine mentale Contenance verlor und mich eine tiefe und unendliche Müdigkeit überfiel. Bedeutete es doch, dass ich schon über eine Stunde hinter meinem Zeitplan lag und nur unwesentliche Tidenunterstützung zu erwarten hätte. Der Winddruck und die gegenläufigen Wellen hatten bisher die Oberhand. Jetzt galt es, der Zähigkeit des noch folgenden Weges einfach keine Gedanken mehr zu opfern, sondern wie trancegleich, mit einem positiven suggestiven Leitgedanken Strecke zu machen. Zur Mittagszeit war ich nun seit fünfeinhalb Stunden unterwegs und konnte in einem leichten Dunstschleier die Umrisse des Festlandes erkennen. Sofort kam es mir so vor, als wenn alles um mich herum ein kleines bisschen heller wurde.

Horizontlinien

Nun stand die größte Herausforderung des Tages noch bevor: Jeder, der von See kommend, schon einmal erlebt hat, wie sich aufgrund der Erdkrümmung und der sich damit verschiebenden Horizontlinie die Perspektive verändert und sicher geglaubte Horizontlinien ihr Antlitz zur Unkenntlichkeit verwandeln, wird die mir noch bevorstehende Herausforderung verstehen. Konsterniert schaute ich auf die Küstenlinie und wähnte mich in einer Copperfieldshow, in der wie aus Zauberhand vier baugleiche Stelzenhäuser sich über eine Küstenbreite von mehreren Kilometern verteilten. Ich musste mich nun entscheiden. Frohen Mutes steuerte ich das nun auserkorene Stelzenhaus an. Je näher ich kam, desto mehr erkannte ich, dass ich nun aus meinem selbst auferlegten Eremitendasein zurückkam in die überbordenden Hotspots der Geselligkeit eines wunderschönen und sonnigen Ostersonntags an einem der längsten Nordseestrände Deutschlands. Eben noch aus der Ferne friedlich und menschenleer erscheinend, entpuppte sich die Küstenlinie bei näherer Betrachtung als das Mekka eines österlichen Ausflugzieles. Es tummelten sich ameisengleich MenschInnen in Sandkornähnlicher Anzahl am Strandufer. Eher betroffen als überwältigt suchte ich auf den letzten Metern einen halbwegs freien Landeplatz, um mit der Spitze meines Boots niemanden ernsthaft zu verletzen.

Holzbohlen unter mir

Mit der Unterstützung eines mir zugewandten Urlaubsgastes spürte ich kurze Zeit später die Holzbohlen des Holzsteges unter mir und konnte rollernd die letzten Meter meiner Reise in Angriff nehmen. Erleichterung, mein Auto stand noch genau dort, wo ich es verlassen hatte. Nicht einmal ein Gebühren bewehrter Strafzettel prangte unter dem Scheibenwischer. Mein Dank gilt der St. Peter-Ordinger Kommunalverwaltung bzw. ihren ausführenden Organen für die Anerkennung meines Parkproblems und das Herz für Seekajaker. Die zwei noch ausstehenden Parktickets habe ich natürlich sofort nachgelöst. Eine halbe Stunde später rollte ich frisch parfümiert und nicht gepudert Richtung meines eigentlichen Zielortes meiner Reise, Schlüttsiel, wo ich dann am folgenden Tag bei 7 Bft Rückenwind sozusagen wie von selbst Richtung Hallig Hooge wehte. Aber das ist eine andere Geschichte…

Infobox:

Seegebiet: Deutsche Bucht

Ziel: Hochseeinsel Helgoland; 54° 11′ nördliche Breite und 7° 53′ östliche Länge.

Überfahrt: St. Peter Ording- Helgoland ca. 52 km, Karfreitag, der 19. April 2019, 11:30 - 18:30, HW 13:00/ NW 19:00 Helgoland

Rückfahrt: Helgoland - St. Peter Ording ca. 52 km, Ostersonntag, der 21. April 2019, 06:30 - 14:00, NW 08:00/ HW 14:00 Helgoland

Wetter: stabile Ostwetterlage, Wind aus Ost 3 Bft mit Böen 4 Bft

Rettungsmittel: SafeTrx (Blackview-9600); UKW Seefunk (Icom IC-M25); PLB (Ocean Signal Rescueme PLB1)

Ausrüstung: Lettmann Biskaya LV; GP Lettmann Blacklight, Länge 230; GP Ersatz Sturmpaddel; Lenzsystem: Schwamm; Trockenanzug Dry Fashion mit Kamin, 2 Lagen Woolpower 200; Sonnenbrille; Woolpower 400 Wollmütze; Reed Aquatherm Haube; 1,8l Platypus Trinksystem; 1kg Nüsse/Gummibären/Schoko

Navigation: nach Kompasskurs; Backup Locus Map App mit Sea Map Open Office

Paddler: Lars Everding, 51 Jahre

 

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